Gedicht aus der Konserve

Die „Computerwelt“ berichtet am 20.03.2018 unter dem Titel „Künstliche Intelligenz schreibt Gedicht“ von einem Durchbruch: Die Digital-Kreativagentur Tunnel23 habe das von künstlicher Intelligenz verfasste Gedicht „Sonnenblicke auf der Flucht“ präsentiert, das prompt in die „Frankfurter Bibliothek“ des Brentano Verlags aufgenommen worden ist. Endlich also sei es gelungen, das Privileg des Menschen auf Kreativität zu brechen: ein „krönender Erfolg“.

Ist das so? Abgesehen von der wohl berechtigten kritschen Frage, wozu man die menschlichen Spezies einer Besonderheit nach der anderen beraubt, stellt sich auch die Frage nach der Stichhaltigkeit der Argumentation. Moderne Lyrik wird immer wieder auf die Schaufel genommen. Es gab schon in der Vergangenheit mehr als einen erfolgreichen Versuch, KritikerInnen und Verlage mit gewollt sinnfreien Gedichten hinters Licht zu führen. Die Schadenfreude derer, die wenig mit moderner Lyrik anfangen können, war stets groß, konnte man sich doch auf die Schenkel und die Schulter klopfen. Und nun also ein Gedicht, das ausreichend Qualität besitzt, um in einen Gedichtband aufgenommen zu werden, auch wenn es ohne Hirn und Herz geschrieben wurde.

Die Diskussionen in Qualitätsmedien folgte auf den Fuß. Fakt ist: Es gibt eine große Anzahl moderner Gedichte, viele davon werden nicht oder kaum wahrgenommen, je nachdem, ob sie gelungen oder weniger gelungen sind. Sie sind uneindeutiger und sensibler als etwa Romane oder Theaterstücke, denn sie leben (fast) ausschließlich von der Sprache. Gerade deshalb finden sie in unserer temporeichen Gesellschaft wenig Publikum. Ob nun ein „Gedicht aus der Konserve“ dazukommt, spielt kaum eine Rolle, ein Beweis für besondere Kreativität oder gar Empfindsamkeit ist es auch nicht, denn bei aller Anerkennung: „Sonnenblicke auf der Flucht“ wird sich nicht in die Literaturgeschichte eingraben. Somit gibt es kaum GewinnerInnen, aber eine Verliererin: die moderne Lyrik, die, so die Botschaft, jede und jeder herstellen kann, selbst wenn es kein Mensch ist.

Wer diese Meinung vertritt, lese Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder andere große LyrikerInnen – empfohlen sei ganz aktuell der neueste Band der wunderbaren Friedericke Mayröcker. Dann diskutieren wir gerne weiter.

Ein Kommentar zu „Gedicht aus der Konserve

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